Januar 2021 (Weinheimer Nachrichten) Weinheims ältester Gesangverein schmerzen das lahmgelegte Leben rund ums Singen und der Verlust einer Dirigentin / 170 Jahre Gesangstradition / Suche nach Chorleitern läuft
Von Jürgen Drawitsch
Hohensachsen. Langsam gehen die Finger von Walter Spieth über das Foto – eines von vielen an der Wand im Sängerheim des MGV 1850 Hohensachsen. Einige der knapp 50 Sänger, die im Jahr 2000 das 150-jährige Bestehen des ältesten Weinheimer Gesangvereins feierten, leben nicht mehr oder können aus Altersgründen nicht mehr in die Singstunde kommen. 29 Aktive halten dem Männerchor die Stange, 39 sind es im 2003 gegründeten „Jungen Chor“. Wann sie wieder gemeinsam singen werden, weiß derzeit niemand.
Auch für Vorstand schwere Zeit
Walter Spieth bildet zusammen mit Walter Rothmüller und Christine Federmann ein Trio an der Spitze des Vereins. Da das Amtsgericht einen Hauptverantwortlichen in einem Verein verlangt, stellte sich Spieth als Sprecher zur Verfügung. Der Vorstand hat es derzeit nicht leicht. Keine Singstunden, keine Konzerte, keine Ehrungen bei runden Geburtstagen, keine Serenade im Sommer mit allen Chören und Musikvereinen Hohensachsens, keine Ständchen-singen, kein Vereinsausflug, keine Kerwe am Sängerheim, kein Auftritt auf dem Weihnachtsmarkt. Spieths Aufzählung von Aktionen und Auftritten zeigt, wie sehr der MGV 1850 Hohensachsen ins Gemeindeleben eingebunden ist und wie oft er es bereichert. „Wir leiden alle unter der Situation. Es ist uns wichtig, Zeichen zu setzen, dass es uns noch gibt“, sagt der Vereinssprecher und blättert virtuell auf seinem Tablet in der Powerpoint-Präsentation weiter.
Der Ruheständler ist mit der Technik vertraut. Das kann man angesichts des hohen Altersdurchschnitts im Verein nicht von allen Mitgliedern sagen, und so steht auch der Gesangverein vor dem Problem, wie er seine Mitgliederversammlung durchführen kann. Per Videokonferenz auf jeden Fall nicht.
Drei Tage gefeiert
Auf dem Bildschirm des Tablets erscheinen Daten und Bilder; etwa von Jubiläumsdamen, die in reicher Zahl und mit Haarschmuck das 100-jährige Bestehen mitfeierten. Drei Tage lang war der Ort deshalb 1950 auf den Beinen.
Ab 1974 unterstützte der MGV aktiv die Partnerschaft mit Anet in Frankreich, ab 1979 wirkte er jährlich bei der Serenade auf dem Dorfplatz mit. „Wer in Hohensachsen wohnt, der singt auch im Verein“, hatte in den Siebziger Jahren Lothar Bock, der damalige Bürgermeister der noch selbstständigen Gemeinde Hohensachsen, gesagt. Auch zum damaligen Neubürger Walter Spieth, und flugs war er Vereinsmitglied.
Der Zusammenhalt der Sänger war gewaltig. Das zeigte sich 1983 und 1984 beim Bau des Sängerheims in der Sachsenstraße. In einem ehemaligen Bauernhof wurde der Stall abgerissen, die Scheune erhalten und ein Sängerheim entstand, auf das der Verein bis heute stolz sein kam. „Gerhard Jarosch hatte noch altes Filmmaterial vom Bau des Sängerheims und es auf eine DVD überspielt“, sagt Walter Spieth (Bild).
Auf der Empore des Sängerheims stehen reichlich silberne und goldenen Pokale aneinandergereiht. „Einmal war ein Schulchor der Sepp-Herberger-Grundschule bei uns, mit der wir seit 1988 eine Schulpatenschaft unterhalten, und Kinder haben die Pokale gezählt. Aber ich hab mir die Zahl nicht gemerkt“, sagt Spieth und lacht.
Meisterchor 1997
Das Edelmetall vergangener Jahre steht jedenfalls für die Leistungsstärke der Sänger, die 1997 als Meisterchor im Badischen Sängerbund ausgezeichnet wurden – ein Höhepunkt an Auszeichnungen unter ihrem Dirigenten Volker Schneider.
Das Thema Dirigenten beschäftigt den Verein nun gleich in doppelter Hinsicht. Volker Schneider, der im vergangenen Jahr sein 50-jähriges Dirigentenjubiläum feierte, hat seine Arbeit beendet. „Wir sind auf der Suche nach einem Nachfolger schon fast fündig geworden, aber es ist noch nicht spruchreif“, sagt Spieth.
Jungen Chor hart getroffen
Den „Jungen Chor“ beschäftigt dasselbe Problem, nachdem Dirigentin Marat Pöhlert vor Kurzem überraschend verstarb. Die beliebte Dirigentin hatte den Chor seit seiner Gründung im Jahr 2003 geleitet und im vergangenen Jahr viele Ideen entwickelt, um die Gemeinschaft des „Jungen Chors“ aufrecht zu erhalten. Sie unternahm zwischenzeitlich Chorproben im Freien, verschickte Noten und Musik an die Aktiven, bot Einzel-Übungen für Chormitglieder an. Ihr Schicksal traf alle hart.
In der Präsentation von Walter Spieth taucht die Vereinsplanung des vergangenen Jahres auf. Nur die erste Singstunde im Jahr, zwei Geburtstagsständchen, ehe Chorfreizeit auf der Tromm und die Mitgliederversammlung konnten noch stattfinden. Dann versiegte das Vereinsleben.
Hohes Durchschnittsalter
Es folgt eine Grafik über den Altersaufbau der Mitglieder. Die meisten Aktiven im Männerchor sind zwischen 75 und 85 Jahre alt. Die meisten Sängerinnen und Sänger im „Jungen Chor“ sind zwischen 50 und 60 Jahre alt.
Am Ende ein Fragezeichen
Sobald es wieder Singstunden geben kann, wird man in Hohensachsen verstärkt auf die Suche nach Nachwuchssängern gehen müssen. Walter Spieth und seine Mitstreiter im Vorstand wissen aus der Vergangenheit, wie schwierig das ist. Dabei kann das Singen in einem Chor viel Lebensfreude bringen. Erfahren kann das nur jemand, der es einmal ausprobiert hat. Am Ende des Rundgangs durch 170 Jahre Vereinsgeschichte steht auf dem Abschlussbild „Wie soll es weitergehen“ mit einem dicken roten Fragezeichen.
Die Festdamen bei der dreitägigen Feier zum 100-jährigen Bestehen im Jahr 1950.
Bei Feiern wie der Kerwe zeigt sich rund ums Sängerheim immer, wie stark der MGV Hohensachsen ins öffentliche Leben eingebunden ist.
Die Alte Scheune eines ehemaligen Bauernhofs blieb beim Bau des Sängerheims in den Jahren 1983 und 1984 erhalten. Dabei brachten Mitglieder des MGV 1850 Hohensachsen eine Menge Eigenleistung ein, auf die man heute noch stolz sein kann. BILDER: MGV HOHENSACHSEN